Von den Neandertaler wissen Paläoanthropologen mehr als von allen anderen ausgestorbenen Menschen. Dennoch bleibt das Verschwinden unserer engsten Verwandten weiterhin ein Rätsel.
Aus: Spektrum der Wissenschaft, November 2009
An der Felsküste am Mittelmeer, auf dem Gelände des heutigen Gibraltar, hauste vor rund 28 000 Jahren eine Gruppe von Neandertalern. Möglicherweise waren sie die Letzten ihrer Art. Anderswo in Europa und Asien waren die Neandertaler schon Jahrtausende vorher verschwunden, nachdem sie rund 200 000 Jahre lang die Vorherrschaft hatten. Spektrum der Wissenschaft berichtet in seiner aktuellen Novemberausgabe über neuesten Funde und Theorien, warum unser engster Verwandter unter den Hominiden noch während der letzten Eiszeit von der Bildfläche verschwanden. Die iberische Halbinsel mit ihrem vergleichsweise milden Klima und ihrer reichhaltigen Tier- und Pflanzenwelt war die letzte Bastion unserer engsten Verwandten. Wenig später jedoch sollte auch die Restpopulation von Gibraltar aussterben. Als einzige Hinterlassenschaften hinterließen sie ein paar verstreute Steinwerkzeuge sowie verkohlte Überreste ihrer Lagerfeuer.
Seit 1856, als Steinbrucharbeiter bei Mettmann das erste Neandertalerfossil entdeckt wurde, diskutieren Wissenschaftler über die Frage, wo diese vorzeitlichen Menschen in unserem Stammbaum stehen und was aus ihnen wurde. In der Debatte dominierten zwei Theorien. Nach der einen These waren die Neandertaler eine archaische Vorform unserer eigenen Spezies, dem Homo sapiens, die sich zu der anatomisch modernen europäischen Form weiterentwickelte oder in ihr aufging. Die andere These betrachtet die Neandertaler als eigenständige Spezies namens H. neanderthalensis. Diese wären vom modernen Mensch schnell ausgerottet worden, nachdem dieser in das Siedlungsgebiet der archaischen Hominiden eingedrungen war.
Aber von der Frage, ob Neandertaler und moderne Menschen nun Liebe machten oder Krieg führten, hat sich die Diskussion in den letzten Jahren entfernt. Das lag an zwei Gründen. Erstens lieferte die Analyse von Neandertaler-Erbgut bisher keine Anhaltspunkte für eine Kreuzung mit modernen Menschen. Und zweitens konnte man mit verbesserten Datierungen nachweisen, dass die Neandertaler nicht sofort nach der Besiedelung Europas durch die modernen Menschen verschwanden, die vor etwas mehr als 40 000 Jahren begann. Sie lebten danach noch mindestens 15 000 Jahre zumindest nebeneinander her – was nicht gerade für eine schnelle Verdrängung spricht, die sich Anhänger der Blitzkriegtheorie ausgemalt hatten.
Auch die These, der Neandertaler sei dem Homo sapiens intellektuell weit unterlegen gewesen, wird inzwischen bezweifelt. Denn mittlerweile mehren sich aber Indizien, dass die Neandertaler in Wirklichkeit doch beträchtlich schlauer waren, als man ihnen bislang zugestand. Offensichtlich verfügten sie doch über viele Verhaltensweisen, die man früher zur ausschließlichen Domäne des modernen Menschen rechnete. Auch im Werkzeuggebrauch schneidet der Neandertaler nach neuen Untersuchungen respektabel ab: Demnach stellten die modernen Menschen zwar vielfältigere Werkzeuge her als die Neandertaler. Beide Gruppen waren aber im Wesentlichen mit den gleichen Tätigkeiten beschäftigt. Wie der Paläoanthropologe Christopher B. Stringer vom Natural History Museum in London es formuliert: "Die Grenze zwischen Neandertaler und Homo sapiens verschwimmt immer mehr."
Nach dem Urteil von Anthropologen war Homo sapiens dem Neandertaler jedoch deshalb überlegen, weil er seine Nahrung effizienter nutzte: Für grundlegende Lebensfunktionen verbrauchte er weniger Energie und konnte deshalb mehr Energie für andere Aufgaben einsetzen: Fortpflanzung und Sicherung des Nachwuchses.
Offenbar spielte auch der Klimawandel eine entscheidende Rolle. Mit dem Auf und Ab der Umweltbedingungen vor über 30 000 Jahren – und nicht zwangsläufig die Kälte als solche – drängte nach Ansicht von Forschern die schwindenden und immer weiter verstreuten Populationen der Neandertaler allmählich zu dem Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab.
Was die letzten bekannten Neandertaler angeht, die noch vor 28.000 Jahren in den Höhlen an der Küste Gibraltars lebten, so konnten sie mit Homo sapiens kaum Probleme haben. Denn moderne Menschen ließen sich nämlich an der Südspitze der iberischen Halbinsel erst nieder, als die Neandertaler dort schon seit einigen Jahrtausenden verschwunden waren. Der Rest ihre Geschichte harrt noch der Aufklärung.